Felinas Schreiben werden über die Zeit zunehmend wirr und konfus. Soweit uns die wenigen lesbaren Passagen ein Urteil erlauben, scheint sie die von ihr erstellten Photographien (sie selbst schreibt von Imaginationen) zu personifizieren und ihnen ein Eigenleben zuzuschreiben.
“C. ist meine beste Freundin geworden. Ich kann alles mit ihr teilen, keine Scham, keine Angst steht zwischen uns. Gemeinsam erschauen wir uns immer neue Möglichkeiten.”
Immer besessener scheint sie die C., die mögliche Kamera, zu nutzen und verfällt dabei mehr und mehr den Bildern, die sie erschafft.
“Meine Imaginationen werden immer kühner. Sie scheinen das Weite zu suchen, sie tollen umher als sei diese Welt gerade erst für sie erschaffen worden.”
Eine klare chronologische Sortierung der Bilder von Felina Schrödinger fällt schwer, aber es scheint als ob sie sich immer mehr auf Portraits ihrer selbst konzentriert. Diese Selbstbildnisse werden zunehmend surreal, bizarre Szenarien und Doppelbelichtungen nehmen eine dominante Rolle ein. Immer öfter photographiert sie sich im Park, rund um den Eiskeller.
Wollte sie wohlmöglich die Geschichten von den Eismädchen bildnerisch umsetzen? In ihren Briefen an Yuliya Sanshayn findet sich keinerlei Beleg für diese These, vielleicht wirkten die Anekdoten jedoch unterbewusst als künstlerischer Impuls.
Das Geheimnis der Autochrome
Neben den Fotoabzügen und Briefen umfasst die Sammlung auch zahlreiche Fotoplatten, viele davon Autochrome ( ein frühes Verfahren zur Fertigung farbiger Fotografien in Form eines Diapositivs welches 1903 von den Gebrüdern Auguste und Louis Lumière in Lyon entwickelt wurde). Diese Fotoplatten belegen, dass die Mehrfachbelichtungen bereits in der Kamera und nicht nachträglich in der Dunkelkammer erschaffen wurden.
Die Platten sind, wie erwähnt, in einem bedauerlichen Zustand. Aber selbst in diesem fragmentarischen Zustand weisen sie ein Farbspektrum auf, welches sich deutlich von anderen Autochromen jener Zeit unterscheidet. Basierten diese Bilder auf einem alternativen Verfahren zu dem der Gebrüder Lumière? Einer völlig neuen panchromatischen Emulsion?
Am Quantum Photonics Laboratory des Massachusetts Institute of Technology (MIT) versuchte man das Geheimnis der Autochrome zu lüften.
In der Ausschnittvergrößerung zeigten die Bilder seltsam organische Strukturen, die so gar nicht zum klassischen Filmkorn passen. Lag hier der Schlüssel zu einem besseren Verständnis des Entstehungsverfahren?
Tatsächlich zeigt die Assoziation mit dem Organischen den Weg auf. Eine algorithmisch-geometrische Analyse bestätigt erste Vermutungen: Die Bildstruktur basiert auf einem Voronoi-Diagramm, also einer Dirichlet-Zerlegung des Raumes. Wie wir wissen, können Voronoi-Diagramme durchaus zur Zerlegung hochdimensionaler Räume verwendet werden.
Nachdem die Struktur der Fotoplatten erkannt war, begann man in einer weiteren Versuchsreihe. Zunächst wurden alle gegebenen Punkte in der -Ebene in eine zusätzliche Dimension projiziert. In einem zweiten Schritt wurden alle Flächen der konvexen Hülle wieder auf die ursprüngliche Ebene zurückprojiziert. In Abhängigkeit vom Projektionswinkel konnten so verschiedene Delaunay-Triangulationen einzeln sichtbar gemacht werden. Mit verblüffenden Ergebnis.
(Mit dem slider kann man zwischen den verschiedenen Ebenen des Bildes wechseln (Die Darstellung funktioniert eventuell nicht in Firefox))
Offenkundig bestanden diese Bilder aus mehreren, vollständig getrennten, Abbildungsebenen. In der analogen Photographie ist eine Mehrfachbelichtung eine Vermischung mehrerer Zeitmomente, die nicht mehr auseinanderdividiert werden können. Hier existierten sie gleichzeitig und unabhängig.
Mit Hilfe von Deep learning Algorithmen konnten die so gewonnenen Bilder forensisch rekonstruiert und weitestgehend restauriert werden.
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Umso klarer die Bilder hervortreten, umso unklarer wird ihr Enstehungsweg. Die naheliegende Erklärung, es würde sich um klassische Mehrfachbelichtungen halten, hält einer weiteren Überprüfung nicht stand. Wie wäre Felina in der Lage gewesen sich in unterschiedlicher Bekleidung exakt in dieselbe Position zu begeben? Und wie erklärt es sich, dass sie auf einzelnen Ebenen gleich zweimal zu sehen ist? Die Autochrome der Felina Schrödinger entziehen sich allen Gesetzen der klassischen Physik, sie scheinen Raum und Zeit fröhlich zu verlachen.
Wäre es nicht so irrwitzig, man wäre geneigt den Fieberphantasien der beiden Damen zu folgen. Dass es wirklich eine Conjunctiva gab, einen “Apparat zur Erfassung und Abbildung alternativer Eigenzustände der uns umgebenden Realität”.
Und wie erklären sich die zahlreichen Sichtungen von mehreren Frauen im Park, die die Erzählungen von den Eismädchen auslösten? Schuf C. tatsächlich nicht nur Bilder, sondern verzahnte Wesen aus parallelen Universen mit unserer Realität? Hatte Felina Schrödinger womöglich recht, wenn sie schreibt:
Manchmal glaube ich, sie(gemeint sind die Imaginationen) sind deshalb so frei, da sie sich nicht an unsere Wirklichkeit gebunden fühlen müssen. Ihre Anwesenheit hier erscheint ihnen in ihrer Welt vielleicht wie ein Traum. Sind wir selber auch Imaginationen in anderen Welten, wann immer wir träumen?”
Bis heute gibt es keinen Beweis dafür, dass jemals eine funktionierende Conjunctiva existierte. Die wenigen Fragmente der Patentschrift erlauben keine Rekonstruktion des Apparates und die wenigen existierenden Platten lassen keinen Rückschluss auf ihre Entstehung zu.
Gab es Eismädchen? Existierte die Conjunctiva?
Möglicherweise.