Die Vorstellung, dass im 21 Jahrhundert Menschen an Geisterwesen glauben, wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Allein, der Siegeszug dessen, was euphemistisch als “soziale Medien” bezeichnet wird, hat zu einer Renaissance der aberwitzigsten Ideen geführt. Wilde Verschwörungstheorien buhlen marktschreierisch um die Gunst des Publikums, kein Unsinn ist sich zu schade mit “likes” und “followern” belohnt zu werden.
In Zeiten wie diesen ist es die nobelste Aufgabe der Wissenschaft, der Ratio, dem gesunden Menschenverstand, eine Lanze zu brechen. Ein gelungenes Beispiel wie verworrenen Fantasien mit einer analytischen Blickweise Paroli geboten werden kann, findet sich in der Ausstellung “Sehnsucht nach dem Jetzt”.
Lässt man sich von dem pathetischen Titel der Ausstellung nicht abschrecken, findet man Gelegenheit eine umfassende und profunde Untersuchung zum Ursprung und Wahrheitsgehalt der Legenden um die “Eismädchen von Biesdorf” ins Auge zu nehmen.
Diese Untersuchung, die von dem Berliner Pictophagologen André Werner in akribischer Kleinarbeit zusammengetragen wurde, zeichnet mit messerscharfer Logik die Enstehung und Verbreitung jener Legenden nach. Gleichwohl verfällt sie nicht der Faszination der “Eismädchen”, sondern führt die seltsamen Phänomene auf simple physikalische Ursachen zurück.
Im ersten Teil dieser Präsentation werden die Gerüchte um leicht bekleidete Damen, die am Eiskeller des Schlosses Biesdorf ihr Unwesen trieben, auf ihre Enstehung um 1911 zurückgeführt. Anschaulich erfährt der Besucher wie sich innerhalb weniger Jahre die Geschichten von den mysteriösen Frauen in das Allgemeinwissen einschrieben und letztlich zu ihrem eigenen Markenzeichen wurden. Artefakte, Zeitungsartikel, Werbeplakate und sogenannte “Beweisfotografien” der Eismädchen zeichnen nach, wie sich aus den vagen Berichten weniger Augenzeugen ein virales Phänomen entwickelte, welches bald weit über seinen Ursprungsort hinaus Verbreitung fand.
Der eigentliche Verdienst der Untersuchung liegt jedoch in der Verknüpfung der “Eismädchen” mit einem, auf den ersten Blick völlig unabhängigen Ereignis: Der Entdeckung einer bis dato unbekannten Erfindung aus in St. Petersburg. Der Conjunctiva, einer Kamera die nach den Gesetzen der Quantenoptik funtioniert. Die Erfinderin, Yuliya Sanshayn, beschreibt sie als “Apparat zur Erfassung und Abbildung alternativer Eigenzustände der uns umgebenden Realität”.
Wie sich zeigt, stand Yuliya Sanshayn im engen Kontakt mit dem Malermodell und Dienstmädchen Felina Schrödinger. Felina, ein aufgewecktes Mädchen, welches ebenso kreativ wie wissensdurstig war, trat im Jahr 1911 ihren Dienst als Soubrette im Schloss Biesdorf an. Wenige Monate bevor die ersten Berichte über “Eismädchen” auftauchen.
Und hier schließt sich der Kreis von den “Eismädchen” über St. Petersburg zurück nach Biesdorf. Wir erfahren, wie Felina, mit einem Exemplar einer Conjunctiva gewappnet, zahlreiche fotografische Experimente vornahm. Der naheliegende Verdacht, dass eine solche Kamera, die ja der “Erfassung und Abbildung alternativer Eigenzustände der uns umgebenden Realität” dient, letztendlich Möglichkeiten in Realitäten wandelt, wird nach Sichtung der wiedergefundenen Conjunctiva Fotoplatten vortrefflich bestätigt. Bildanalysen durch das Quantum Photonics Laboratory des Massachusetts Institute of Technology (MIT) räumen letzte Zweifel aus.
Die “Eismädchen” existierten tatsächlich, mögliche Bilder, die durch den Einsatz der Conjunctiva zu real existierenden Wesen wurden.
Die Ausstellung “Sehnsucht nach dem Jetzt” zeigt mit diesem Exkurs, dass auch die unwahrscheinlichsten Begebenheiten mit den Gesetzen der Logik und einem besonnenen Blick erklärbar sind.
Die wissenschaftliche Arbeit von André Werner und seinem Team dauert an. Der geneigte Leser kann sich unter artyesno.com/felina ein Bild vom aktuellen Stand der Conjunctivaforschung machen.
Matou de Marsalle | Biesdorf im Januar 20